NU - Kommentare

Eine Demo der anderen Art

NU - Ausgabe Nr. 45 (3/2011)
Von Erwin Javor

Kürzlich gab es Demonstrationen in London, Madrid, Athen, von den Ereignissen des „arabischen Frühlings“ ganz zu schweigen. Auch in Tel Aviv waren im August dreihunderttausend Menschen auf der Straße. Es ging, als Thema mit Variationen, auch dort um soziale Missstände: mangelnde Wohnbauförderung, keine leistbaren Kindergärten und Krippen, die Einkommensschere zwischen obszön reichen Oligarchen und einem um das bisschen Lebensstandard und ums wirtschaftliche Überleben kämpfenden Mittelstand, Ärzte, Lehrer, Unternehmer, die ohne Familientransfers längst am Ende wären, junge gebildete Menschen und ihr Wunsch nach der Hoffnung auf eine Zukunft.

Wüsste ich nicht, dass diese Demo in Tel Aviv stattgefunden hat, wäre all das allein noch kein Hinweis darauf, denn weder die Themen noch das Mittel der Demonstration, noch die Tatsache, dass Bevölkerungsgruppen, die keine stereotypischen Demonstranten sind – zum Beispiel meine Frau und ich – auf die Straße gegangen sind, würde zweifelsfrei darauf hinweisen, dass das in Israel und nicht irgendwo stattgefunden hat.

Woran ich an dem Tag wieder einmal gemerkt habe, dass Israel ein „ganz normales Land, aber nur fast“ ist, war die Qualität dieser Demo: Am Rothschild Boulevard standen Hunderte von Zelten, in denen Tausende von jungen Menschen wochenlang übernachtet hatten, beschriftet mit Botschaften gegen die Missstände, aber formuliert mit Kreativität und Witz: „Die Oma ist keine Bank.“ Oder, auf einem doppelstöckig gebastelten Zelt: „Rotschild Duplex günstig zu vermieten“. Oder vor einem anderen Zelt mit einem aufblasbaren Kinderplanschbecken: „Sonderangebot! Luxusvilla mit Swimmingpool.“ Transparente bedienten sich nicht der naheliegenden Agitprop-Sprache, sondern des Humors. Vor den Zelten wurde gekocht, musiziert, gesungen. Zwischen Zeltbewohnern und Passanten, die sich der Demo im Lauf der Zeit anschlossen, entstand eine ganz besondere Atmosphäre der Solidarität, die letztlich mit auch die Ursache für die angekreideten Zustände ist.

Denn die Argumentation der diversen israelischen Regierungen um die Akzeptanz der Bevölkerung für schwierige Lebensumstände zu rekrutieren, ist stets, dass man, um der Sicherheit und Existenz Israels willen, Opfer bringen, solidarisch verzichten und eben vieles akzeptieren müsste. Es wäre eben aus solch hehren Motiven unvermeidlich, dass es Ungerechtigkeiten gäbe wie die Tatsache, dass junge Menschen Jahre ihres Lebens beim Militär verbringen und ihr Leben riskieren, während vom Staat profitierende und diesen gleichzeitig ablehnende Orthodoxe davon befreit sind. Im Namen der Solidarität werden auch enorme Geldflüsse in die besetzten Gebiete statt in den Wohlstand der Bevölkerung gerechtfertigt, auch wenn am Ende des Tages diese Strategie ein Ablaufdatum gehabt haben wird, wie wir es schon am Sinai und in Gaza erlebt haben.

Ausgerechnet in einem Land, das seit seiner Gründung nie ohne Gewaltbedrohung existieren konnte, blieb diese Demonstration völlig gewaltfrei und fand auf der KaplanStreet wie bei einem Konzertmarathon, wo populäre Bands für und mit ihrem Publikum spielten und sangen, ihren Höhepunkt, der keinem bitteren, aggressiven Protest, sondern einem Fest fürs Leben glich.

Nun könnte man sagen, das ist nichts Neues, diese Art von politischem Protest ist schon meiner eigenen Generation in Woodstock eingefallen. Aber so ist es nicht, denn wenn ich mich umschaue, nicht nur in Israel, fällt mir schon lange mit ziemlichem Entsetzen eine erstaunliche politische Apathie und Ahnungslosigkeit auf. Aber, vielleicht ist die Tel-Aviv-Party der Facebook- Generation gegen die sozialen Missstände ein entstehender Weg, sich zeitgemäß politisch zu organisieren. Vielleicht ist die Reihenfolge neu. In meiner Generation gab’s erst die politische Deklamation, dann die Party, vielleicht findet die jetzige Generation ihren Weg zum politischen Denken und Handeln auf die umgekehrte Weise.

Jedenfalls war ich zutiefst berührt und beeindruckt, als ich in Tel Aviv ein Teil dieser Demo war und das Gefühl hatte: Ich weiß noch nicht was, aber das kann was werden.

 

Kurzlaute und Gesten: Die mittelhochdeutsche Onomatopoesie oder Naturlaute und Schallworte im Jiddischen als außersprachliches akustisches Phänomen und Gestik im Sinne von kommunikativen Bewegungen insbesondere der Arme, Hände und des Kopfes als lautsprachersetzende wie auch lautsprachbegleitende bzw. lautsprachunterstützende nonverbale Kommunikation.

NU - Ausgabe Nr. 45 (3/2011)
Von Erwin Javor

Jiddisch ist keine geschwätzige Sprache. Was, so werden Sie sich vielleicht fragen, wenn Sie mitdenken, soll dann dieser langatmige Titel?

„Savlanut!“ (hebräisch für: Geduld). Und wenn Sie mich jetzt sehen könnten, müsste ich nichts mehr hinzufügen, denn mein gequältes Gesicht ob ihres Unwissens, die zusammengeführten Fingerkuppen meiner rechten Hand, die ich leidend schütteln würde, würden keine weitere Erklärung erfordern.

Falls doch, erzähle ich Ihnen noch ein, zwei Geschichten, damit auch Sie wissen, worum es heute geht:

Vor vielen, vielen Jahren brauchte ich über eine Firma dringend eine Kreditauskunft. Also beantragte ich beim KSV, dem Kreditschutzverband, für viel Geld eine sogenannte „große Auskunft“, die ich nach mehreren Urgenzen in der Rekordgeschwindigkeit von nur acht Tagen erhielt. Seiten waren es viele, jetzt verstand ich, wieso das acht Tage lang gedauert hatte, aber am Ende der Lektüre wusste ich genauso viel – oder wenig – wie vorher. Die einzige nützliche Information, die ich in dem Konvolut finden konnte, war die Bankverbindung. „Bankhaus Winter“. Jetzt wusste ich sofort, was zu tun war. Ich rief Simon Moskovics, den Eigentümer der Bank, an und fragte, ob er an meiner Stelle der besagten Firma Ware ohne Sicherheiten liefern würde. Er fragte kurz angebunden. „Wie viel?“ Ich antwortete bereitwillig und erhielt unverzüglich im Bruchteil einer Sekunde die wirkliche „große Auskunft“: „Äh!“ und Moskovics legte grußlos auf. Wir telefonierten zwar nur, aber ich konnte seinen schräg gelegten Kopf, seine verächtlich nach unten gezogenen Mundwinkel, seine gequält nach oben wandernden Schultern trotzdem deutlich sehen und wusste alles, was ich wissen musste. Gottlob habe ich daher nicht ohne Akkreditiv geliefert.

Diese Geschichte kannten Sie wahrscheinlich nicht, aber von der folgenden haben Sie doch sicher schon gehört, oder? Na ja, zur Sicherheit. Man weiß ja nicht, wer das liest.

Also. Geht ein Mann ziellos durch Wien und hält einen offensichtlich nichtarischen Mit-Passanten auf, der vom Naschmarkt kommend mit zwei prallen Wassermelonen unter seine Arme geklemmt an ihm vorbeigehen will. „Entschuldigen Sie bitte! Wo ist hier die Linke Wienzeile?“ – Freundlich bleibt der Mit-Passant stehen. „Halten Sie mir bitte einen Augenblick die Melonen?“ – Der orientierungslose Tourist wundert sich, aber tut, wie ihm geheißen wird. Vielsagend zuckt der besagte jüdische Mitbürger mit den Schultern, breitet bedauernd seine Arme, Handflächen nach oben, aus und gibt Auskunft: „Ech weijss?“ (Woher soll ich das wissen?).

Also so geht das, wenn man nichts weiß. Möchte man hingegen auf Jiddisch unvollständiges oder ungenaues Wissen präzisieren, macht man das zum Beispiel so: Nach langer Zeit treffen sich zwei Freunde wieder. Sagt der eine: „Moische! Ech hob gehert, di bist geworn a Millionär?!“ (Moses, es ist mir zu Ohren gekommen, du wärest Millionär geworden.) Sagt der Moische: „Ech bin nischt geworn a Millionär (Arme deutlich über den Kopf nach oben gehoben, Handflächen nach oben, Blick nach oben, Stimme hoch und laut), ech bin geworn a Millionär (Arme deutlich tiefer, auf Hüfthöhe, Handflächen nach unten, Blick nach unten, Stimme tief und verhalten).“ (Ich bin kein Multimillionär, ich bin nur ein Millionär.) Alles klar? Gut.