NU - Kommentare

Zwischen den Stühlen

NU - Ausgabe Nr. 40 (2/2010)
Von Erwin Javor

Gehen Sie in Wien gerne in die Oper, den Musikverein oder ins stadtTheater? Dann geht es Ihnen wie mir. Flanieren Sie in Tel Aviv gerne auf der Rothschild oder am Namal, dem alten Hafen, und diskutieren leidenschaftlich mit jemandem, den sie gerade kennengelernt haben? Dann sind Sie wie ich.

In Wien herrscht Zucht und Ordnung, und das meine ich positiv. Das bedeutet nämlich, die Müllabfuhr funktioniert, die Post transportiert Briefe dorthin, wo sie hin sollen, Handwerker haben eine Berufsschule von innen gesehen, und zu einer geschäftlichen Verabredung kommt man drei Minuten früher. Das hat etwas Beruhigendes und Verlässliches.

Trotzdem werde ich in Wien in regelmäßigen Abständen unruhig. Vielleicht, weil ich gerade die "Kronen Zeitung" gelesen habe, vielleicht, weil mir jemand höflich etwas gesagt hat, von dem ich weiß, dass er das Gegenteil meint und nur Konflikt vermeiden will. Immer wieder fühle ich selbst den Druck, mich zurückzunehmen, Gefühle nicht zu zeigen, mich zu verstellen, um nicht als irrational oder anders zu gelten.

Dann ist es wieder Zeit für mich, und ich unterziehe mich erneut den Ärgernissen absurder Flughafenrituale, denen Flüge von und nach Israel unterliegen, und fühle mich lebendig.

In Tel Aviv gehe ich voll Freude einfach irgendwo hin und bin glücklich. Ich sehe lauter junge Leute, Unmengen an Kindern und Schwangeren. Überall schwappt einem leidenschaftliche Lebensfreude entgegen, sicherlich aus dem Wissen, dass es nicht selbstverständlich ist zu leben, oder gar "normal" zu leben. Das zeigt sich in unzähligen Alltagsgeschichten: Eine Supermarkt-Kassiererin mit russischem Akzent machte sich Sorgen, ob ich vernünftig einkaufe und empfahl mir statt des von mir gewählten Markenartikels ein billigeres Produkt und wies mich auf die Möglichkeit hin, mit meiner Kreditkarte auch auf Raten bezahlen zu können. Oder: Im Stau auf der Namir stieg ein Fahrer aus seinem Wagen aus, ging zu einem daneben stehenden Auto und reichte, kommentarlos, dem durstig aussehenden Kleinkind darin eine Wasserflasche.

Kurz vorher hatte derselbe Mann, wie in Tel Aviv üblich, ohne jegliches Interesse am Blinken oder Blick in den Rückspiegel, eine Reihe von Straßenkameraden bedrängt, behupt und geschnitten. So selbstverständlich desorganisiert wie der Straßenverkehr sind auch alle Interaktionen mit Behörden, Banken, Geschäften und Handwerkern. Israelis können genial improvisieren, aber überhaupt nicht planen. Als Reaktion auf so ziemlich jedes Ansinnen, bevor sie sich auf so herzerwärmende Weise öffnen, sind sie einmal dagegen, in Abwehrhaltung und unfreundlich. In diesen Niemandslandmomenten zwischen Angegiftelt- und Umarmt-Werden buche ich dann wieder meinen Flug nach Wien.

Kurz nach der israelischen Staatsgründung begegnen sich zwei Passagierschiffe voller jüdischer Auswanderer im Mittelmeer. Eines kommt aus Europa und hält Kurs auf Israel. Die Route des anderen führt von Haifa nach Europa. Als sie auf gleicher Höhe sind, reagieren alle Passagiere gleich auf ihre Gegenüber am anderen Schiff. Sie schütteln fassungslos den Kopf und tippen sich in eindeutiger Geste auf die Stirn: "Die da drüben haben einen Vogel!"

Diese Geschichte fällt mir immer wieder ein, wenn ich am Flughafen von Tel Aviv am Weg nach Wien oder in Schwechat am Weg nach Tel Aviv bin. Was zieht mich ständig von einem Ort zum anderen? Warum sehne ich mich nach Tel Aviv, wenn ich in Wien bin, und nach Wien, wenn ich in Tel Aviv bin? Ich weiß es natürlich. Meine Zerrissenheit ist meine Identität. Mit meiner Geschichte, der Geschichte meiner Familie, steht es mir nicht zu, mich irgendwo zu lang zu wohl zu fühlen. Ich weiß zu viel, das ich nicht vergessen kann und will. Zwischen den Stühlen zu sitzen ist für mich kein temporärer Zustand, sondern Programm. Und das ist auch gut so.

 

Von NU zu Nudnik

NU - Ausgabe Nr. 40 (2/2010)
Von Erwin Javor

Letztes Mal haben wir oh, oj und nu gelernt. Sind Sie bereit für eine Silbe mehr? Weil heute lernen wir, lassen Sie mich nachdenken … hmmm … Sie sind ja jetzt schon fortgeschritten. Fangen wir zunächst einmal mit dem wichtigen Wort Nudnik an. Sie glauben, über den wissen Sie schon alles? Sind Sie sicher? Weit gefehlt. Ich glaube nämlich, das der arme Nudnik ständig als das gesehen wird, was er nicht ist: Ein Nudnik ist kein Luftmensch (Tagträumer, der nur gelegentlich Einkünfte hat und von der Luft lebt). Ein Nudnik ist auch kein Oberchochem (ja das Wort kennen sie vielleicht noch nicht, aber das hat drei Silben und kommt heute nicht dran). Ein Nudnik ist auch kein Ganev (ein Dieb, ein schlauer Kerl mit Neigung, andere zu täuschen, ihnen Streiche zu spielen). Zum Beispiel:

Wussten Sie schon, dass die Sushi- Bar eine jüdische Erfindung ist? Zwei Juden wollten ein Restaurant aufmachen und für die Küche ging ihnen das Geld aus. Wissen Sie zumindest, was ein Psychiater ist? Das ist ein jüdischer Arzt, der kein Blut sehen kann.

Wo waren wir noch? Ach ja, beim Nudnik und was er nicht ist. Ein Nudnik ist auch kein Nebbich und kein Untam (ein Untam lässt alles fallen, ein Nebbich klaubt alles auf). Glauben Sie’s oder nicht, vor allem ist ein Nudnik kein Redakteur von „NU“. Ein Nudnik ist in erster Linie ein Langweiler und daher eine besondere Nervensäge, ein Quälgeist, ein Nörgler. So wie der hier:

Kommt ein Mann zum Arzt und klagt: „Herr Doktor, ich habe ein großes Problem: Stellen Sie sich vor! Ich führe Selbstgespräche!“ – Der Arzt, unbeeindruckt: „Das ist ja nichts Besonderes. Das machen viele. Sogar ich.“ – Der unverstandene Patient schüttelt traurig den Kopf: „Aber Herr Doktor, Sie verstehen nicht: ICH bin doch nebbich, ein Nudnik!“

Noch ein Zweisilber: Mitzwe. Das ist einerseits ein religiöses Ge- oder Verbot, andererseits eine gute Tat oder eine Untat, auf die man verzichtet. Also zum Beispiel das Gebot „Ehre Vater und Mutter“, Fasten zu Jom Kippur oder die Ablehnung eines Bestechungsversuchs sind Mitzwes. Oder das hier:

Herr Finkelstein stirbt und hat gleich eine Vorladung zu Gott am Hals, der seufzend den Kopf schüttelt. „Finkelstein, Finkelstein, was mach ich mit Ihnen? Wie soll ich Sie ins Paradies lassen? Sie haben Ihr ganzes Leben, Ihr GANZES Leben nur Mitzwes gemacht. Finkelstein! Das geht doch nicht! So passen Sie nicht ins Paradies. Das ist nicht menschlich! Ich schick’ Sie jetzt zurück auf die Erde, dann strengen Sie sich endlich an und sündigen Sie zumindest einmal!“ Finkelstein kehrt gottergeben zurück, geht ratlos in seinem alten Viertel in Brooklyn auf und ab und hält Ausschau nach Sünde. Er versucht einen Apfel zu stehlen, es gelingt nicht – der Obsthändler erkennt ihn und schenkt ihm den Apfel. Er versucht zu fluchen, es gelingt ihm nicht – alle Leute begrüßen ihn so herzlich und respektvoll, es geht einfach nicht. Endlich trifft er eine junge Prostituierte, lädt sie in ein Hotel ein und verbringt mit ihr eine fantastische Nacht. In der Früh wacht er befriedigt und zufrieden auf und freut sich schon aufs Paradies. Von wegen. Wohlig seufzend räkelt sich die junge Frau neben ihm und verkündet: „Ach Herr Finkelstein, haben Sie mir getan eine Mitzwe!“ * Mammeloschn (Jiddisch): Mutterwitz; Muttersprache. Aus dem Hebräischen Loschn: Zunge, Sprache.