NU - Mammeloschn
Kandinskys Bedrängnis
NU - Ausgabe Nr. 48 (2/2012)
Von Erwin Javor
Juden haben ein gutes Gedächtnis. Bis heute haben wir nicht vergessen, dermannen wir (erinnern wir uns), was Eva, diese Schlampe, Adam angetan hat. Ja, die Christen auch nicht, aber wir waren die Ersten. Alljährlich müssen wir acht Tage lang ungesäuerte und somit unverdauliche Mazzes essen, nur weil wir nicht vergessen können, dass wir es vor über zweitausend Jahren eilig gehabt haben, Ägypten zu verlassen, um das Rote Meer zu teilen. Und wir werden es den Griechen nie verzeihen, dass sie unseren Tempel entweiht haben, auch dessen gedenken wir jedes Jahr pinkt (noch dazu genau) zu Weihnachten. Wir merken uns alles.
Davon kann der alte Dr. Kandinsky aus Warochta ein Lied singen. Vor langer Zeit hatte er das Schtetl verlassen, war in die Welt gezogen, hatte studiert und war ein berühmter Arzt in Warschau geworden. Ganz Warochta war stolz auf ihn. Einer von ihnen, den sie noch als Jeschiwe bocher (Talmudstudent) durchgefüttert hatten, war jetzt weltberühmt! Als Dr. Kandinsky dann nach vielen Jahren zurück ins Schtetl kam, um seine Familie und seine Freunde zu besuchen, war ganz Warochta in heller Aufregung. Der Gemeindesaal wurde neu ausgemalt, geputzt und geschmückt, damit er seine neuesten medizinischen Erkenntnisse in einfachen Worten ganz exklusiv den staunenden Bewohnern von Warochta nahebringen konnte. Der Applaus brandete ihm entgegen, als er auf das Podium stieg. Minutenlang. Gerührt bedankte sich der Heimkehrer und als der Applaus langsam abebbte, zog er sein Manuskript hervor und begann mit seinem Vortrag. Doch oj! Plötzlich fegte ein Windstoß durch die geöffneten Fenster des Saals, durch die die weniger Privilegierten, die keine Sitzplätze mehr bekommen hatten, Kandinskys Worten lauschen wollten. Die Blätter segelten zu Boden und Kandinsky bückte sich, um sie aufzuheben. War es das Scholet (traditionelles Bohnengericht) vom Vortag, war es die Aufregung, oder einfach die Strapaze der Reise, man weiß es nicht. Jedenfalls entwischte Dr. Kandinsky ein sehr lautes, unüberhörbares – doch bitte völlig natürliches! – Körpergeräusch. Man konnte eine Stecknadel fallen hören. Es soll nicht als respektlos gelten, aber die Menge war dankbar, dass die Fenster, alle Fenster, ganz weit geöffnet waren. Kandinsky versank vor Scham fast in den Erdboden. Seine Rede fiel deutlich kürzer aus, als ursprünglich geplant. Während er sprach, schaute er kein einziges Mal ins Publikum und verschwand dann sofort durch den Hintereingang.
Viele Jahre später erkrankte Kandinskys Vater schwer und er sah es als unumgänglich an, wieder nach Warochta zu reisen. Diesmal plante er aber, wie er hoffte unerkannt, in einem kleinen Gasthof im Nachbarort Jeremtscha zu übernachten. Bei seiner Ankunft kam er zunächst einmal mit dem Wirt ins freundliche Gespräch, der ihn danach fragte, wer er denn sei und was er hier in dieser Gegend zu tun hätte. „Mein Vater ist krank“, erklärte Kandinsky, „und ich besuche ihn.“ – „Und warum wohnst du dann hier und nicht bei deiner Familie?“, wunderte sich der Wirt. Kandinsky schluckte verlegen und gab dann zu, dass er vor vielen Jahren in Warochta eine peinliche Situation erlebt hätte und er es daher vorziehen würde, inkognito zu bleiben. Der Wirt beruhigte ihn: „Was immer damals passiert ist, die Leute haben das sicher schon längst vergessen und auch nicht so ernst genommen wie Sie! Machen Sie sich keinen Kopf!“ Kandinsky wurde nachdenklich und musste, rein logisch betrachtet, dem Wirt Recht geben. „Wann hat sich das überhaupt abgespielt, vor wie vielen Jahren?“ – „Ich weiß es nicht mehr genau“, meinte Kandinsky, „aber zehn, fünfzehn Jahre wird es schon her sein.“ Der Wirt nickte kurz verständnisvoll mit dem Kopf und fragte nach: „Is dus gewejn far dem Kandinsky-Farts oder danuch?“ (War das vor dem Kandinsky-Furz oder nachher?)