NU - Kommentare

Anderl von Rinn und Mohammed al Dura

NU - Ausgabe Nr. 32 (2/2008)
von Erwin Javor

Vor 546 Jahren war die mittelalterliche Welt schockiert, entsetzt, konnte es nicht fassen: Der kleine Tiroler Anderl von Rinn war angeblich von Juden niedergemetzelt worden, um sich sein Blut für rituelle Zwecke zu besorgen. Im Laufe der Jahrhunderte wurde der „Tatort“, der Judenstein bei Rinn, zum Wallfahrtsort, Papst Benedikt XIV. erlaubte die Verehrung des Anderl, die Gebrüder Grimm veröffentlichten die Geschichte, ein Wiener Geistlicher verfasste die Schrift „Vier Tiroler Kinder, Opfer des chassidischen Fanatismus“, und ein Fresko in der Ortskapelle zeigte den Ritualmord ganz genau, damit man ihn sich immer wieder anschauen konnte. Niemand schien daran zu zweifeln, dass es genau so war. Bilder lügen ja nicht.

532 Jahre später verbot Bischof Stecher den Kult um das Anderl von Rinn und ließ das Fresko der frühen medialen Fälschung übertünchen.

Vor acht Jahren sah die Welt, wie der kleine Palästinenserjunge Mohammed al Dura von den Israelis vor laufender Kamera von einer Kugel niedergemetzelt wurde. Kameramann Talal Abu Rahme filmte es, Charles Enderlin, Nahost-Korrespondent des französischen Fernsehsenders France 2, erzählte die Geschichte, und jeder konnte es sehen. Die Welt war schockiert, entsetzt, konnte es nicht fassen. Niemand schien daran zu zweifeln, dass es genau so war. Bilder lügen ja nicht.

Doch Phillipe Karsenty von der Nachrichtenagentur Media-Ratings, der die Geschichte recherchierte, gewann nach acht Jahren einen Prozess gegen France 2, da er belegen konnte, dass es sich bei der Geschichte um eine Fälschung handelte.

Wäre der Film weitergelaufen, hätte man gesehen, dass der tote kleine Märtyrer nach seinem „Tod“ noch lebte. Wäre die Geschichte, bevor sie weltweit ausgestrahlt wurde, hinterfragt worden, hätte sich schon damals herausgestellt, dass der später im Krankenhaus von Gaza gezeigte tote Junge nicht der kleine Mohammed war. Hätte es schon damals France 2 und andere Medien interessiert, oder gar die Weltöffentlichkeit, hätte man schon damals gewusst, dass an dem bewussten Tag an dem bewussten Ort zur bewussten Zeit nur palästinensische Kameraleute präsent waren, was auf eine mögliche Inszenierung „for camera only“ vermuten lassen hätte können.

Die Bilder haben sich eingeprägt, wurden zur Ikone, verkitscht auf Gemälden und Postkarten dargestellt und im Schulunterricht als Beweise für die mörderischen Juden herangezogen. Eigentlich sollten die Richtigstellungen von solch ungeheuerlichen Verleumdungen eines ganzen Volkes, zumindest in der demokratischen Welt, mit derselben Empathie, mit demselben Nachdruck und derselben Überzeugung von dem Unrecht, das geschehen war, kolportiert werden. Ist das so? Ich habe das aber zumindest in den österreichischen Medien so nicht wahrgenommen. Wahrheit ist wohl langweilig und verkauft sich schlecht.

Es hält sich jahrhundertelang mühelos die Lüge, dass Juden absichtlich und systematisch Kinder morden – ungeachtet der Tatsache, dass die jüdische Religion den Verzehr von Blut verbietet und im jüdischen Staat, der als einziger in der Region eine Demokratie ist, Mord ein Kapitalverbrechen ist. Dieselben Verbrechen, die man gegen jede Logik hartnäckig den Juden zur Last legt, werden anderen nicht nur nicht vorgeworfen, sie werden sogar leidenschaftlich als rechtmäßig verteidigt: Wenn sich bewaffnete Hamas-Palästinenser unter Zivilisten – und Kindern – verstecken, um propagandaträchtige Schutzschilder zu haben, gilt das für viele nicht nur nicht als Mord, sondern als legitimer Widerstandskampf.

Tote, oder auch nicht tote, Kinder werden instrumentalisiert, um damit politische Propaganda anzuheizen. Wieso fällt niemandem etwas auf beim Anblick von unversehrten und funkelnagelneuen (!) Spielsachen in den Trümmern von Beirut? Warum soll das nicht mit „toten“ Kindern noch viel besser funktionieren!

Müssen wir jetzt wieder 532 Jahre warten, bis ein Ayatollah der Verehrung falscher Märtyrer ein Ende setzt?